SPURLOS VERSCHWUNDEN
Mit
einigen schwindelerregenden Sprüngen trug Saphira Eragon durch das
Lager zu Rorans und Katrinas Zelt. Vor dem Zelt schrubbte Katrina
gerade ein Nachthemd auf einem Waschbrett, das in einem Eimer mit
Seifenlauge stand. Sie hob die Hand und schützte ihre Augen vor der
Staubwolke, die Saphira bei der Landung aufwirbelte.
Roran trat heraus und schnallte seinen
Gürtel zu. Er hustete und spähte mit zusammengekniffenen Augen
durch den Staub. »Was führt dich her?«, erkundigte er sich, als
Eragon abstieg.
Er erzählte den beiden hastig von seiner
bevorstehenden Abreise und schärfte ihnen ein, sein Verschwinden
unbedingt vor dem Rest der Dorfbewohner geheim zu halten. »Ganz
gleich wie gekränkt sie sein mögen, weil ich sie angeblich nicht
sehen will, ihr dürft ihnen auf keinen Fall die Wahrheit sagen.
Nicht einmal Horst oder Elain. Bevor ihr auch nur ein Wort über
Nasuadas Plan verliert, sollen sie mich lieber für einen
unhöflichen, undankbaren Rüpel halten. Ich bitte euch zum Wohl
aller, die gegen das Imperium kämpfen. Werdet ihr das tun?«
»Wir würden dich niemals verraten, Eragon«,
versicherte ihm Katrina. »Daran solltest du nie zweifeln.«
Dann teilte Roran ihm mit, dass er ausrücken
würde.
»Wohin?«, rief der Drachenreiter
erstaunt.
»Ich habe den Befehl erst vor ein paar
Minuten erhalten. Wir überfallen einen Nachschub-Konvoi des
Imperiums hinter den feindlichen Linien, irgendwo im Norden.«
Eragon betrachtete sie der Reihe nach. Roran
wirkte ernst und entschlossen, angespannt in Erwartung des
bevorstehenden Kampfes, Katrina versuchte, ihre Besorgnis zu
verbergen, und um Saphiras geblähte Nüstern flackerten kleine
Flammen, die bei jedem Atemzug zischten. »Wir trennen uns also
alle.« Was er nicht aussprach, schwebte wie ein Leichentuch über
ihnen - die Möglichkeit, dass sie sich vielleicht nicht mehr lebend
wiedersehen würden.
Roran packte Eragons Unterarm, zog seinen
Cousin an sich und umarmte ihn kurz. Dann ließ er ihn wieder los
und starrte ihm in die Augen. »Pass gut auf dich auf, Cousin.
Galbatorix ist nicht der Einzige, der dir liebend gern ein Messer
zwischen die Rippen jagen würde, wenn du gerade nicht
hinsiehst.«
»Dasselbe gilt für dich. Und wenn du es mit
einem Magier zu tun bekommst, renn in die entgegengesetzte Richtung
davon. Die Schutzzauber, mit denen ich dich belegt habe, halten
nicht ewig.«
Katrina umarmte Eragon. »Bleib nicht zu
lange weg«, flüsterte sie.
»Ich versuch’s.«
Anschließend gingen Roran und Katrina zu
Saphira und berührten mit der Stirn ihre lange, knochige Schnauze.
Aus Saphiras Kehle drang ein tiefes Summen, das ihre Brust
vibrieren ließ. Denk daran,
Roran, sagte sie, begehe nicht
den Fehler, deine Feinde am Leben zu lassen. Und Katrina, grüble
nicht über das nach, was du nicht ändern kannst. Es wird deinen
Schmerz nur verschlimmern. Mit einem leisen Rascheln
ihrer Schuppen breitete Saphira die Flügel aus und umfing damit
Roran, Katrina und Eragon in einer warmen Umarmung, abgeschirmt vom
Rest der Welt.
Als Saphira die Schwingen hob, traten Roran
und Katrina zurück, während Eragon auf ihren Rücken kletterte. Mit
einem Kloß im Hals winkte er dem frisch verheirateten Paar zu, und
er winkte noch, als Saphira sich abstieß und in die Luft schnellte.
Nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten. Er lehnte sich
gegen die Rückenzacke hinter ihm und blickte in den Himmel.
Zu den
Kochzelten?, wollte Saphira wissen.
Ja.
Saphira flog ein paar hundert Fuß hoch und
nahm Kurs auf den südwestlichen Teil des Lagers, wo Rauchsäulen von
vielen Öfen und großen, offenen Feuergruben in den Himmel
aufstiegen. Der Wind rauschte sacht an ihnen vorbei, als sie zu
einem freien Platz zwischen zwei offen stehenden, etwa fünfzehn Fuß
langen Zelten hinabsanken. Das Frühstück war bereits zu Ende, daher
waren sie menschenleer, als Saphira mit einem vernehmlichen Plumps
landete.
Eragon eilte mit ihr zu den Feuern hinter
den Holztischen. Die mehreren Hundert dort beschäftigten Männer
unterbrachen ihre Tätigkeiten nicht, um Eragon und Saphira
anzustarren. Sie kümmerten sich weiter um die Feuer, hackten
Fleisch, schlugen Eier auf, kneteten Teig, rührten in eisernen
Kesseln mit geheimnisvollen Flüssigkeiten, wuschen riesige Berge
von schmutzigen Töpfen und Geschirr oder widmeten sich auf andere
Weise der gewaltigen, nie enden wollenden Aufgabe, Mahlzeiten für
die Varden zu bereiten. Was waren schon ein Drache und sein Reiter,
verglichen mit dem gierigen Appetit des vielköpfigen Geschöpfs,
dessen Mäuler sie zu stopfen hatten?
Ein untersetzter Mann mit einem kurz
geschorenen, grau melierten Bart kam auf die beiden zu und
verbeugte sich knapp. Er war so klein, dass er fast als Zwerg hätte
durchgehen können. »Ich bin Quoth Merrinsson. Wie kann ich Euch
dienen? Wir haben gerade Brot gebacken, Schattentöter. Möchtet
Ihr?« Er deutete auf einen Tisch, auf dem eine Platte mit zwei
Reihen Sauerteigbroten stand.
»Ich nehme gern einen halben Laib, wenn ihr
ihn erübrigen könnt«, antwortete Eragon. »Aber wir sind nicht
hergekommen, weil ich hungrig
bin.Saphira möchte etwas fressen.
Sonst geht sie immer auf die Jagd, aber dazu fehlt uns heute die
Zeit.«
Quoth starrte an ihm vorbei auf Saphiras
massigen Körper und wurde blass. »Wie viel frisst sie denn
normalerweise... Ich meine, wie viel esst Ihr normalerweise,
Saphira? Ich könnte Euch sofort sechs gebratene Rinderhälften
bringen lassen; sechs weitere sind ungefähr in einer Viertelstunde
fertig. Genügt das, oder...?« Sein Adamsapfel hüpfte, als er
schluckte.
Saphira stieß ein leises Knurren aus,
woraufhin Quoth mit einem spitzen Schrei zurücksprang.
»Sie würde ein lebendes Tier vorziehen, wenn
es dir recht ist«, erklärte Eragon.
»Recht?«, quiekte Quoth. »Es ist mir recht.«
Er nickte und zerrte mit fettigen Händen an seiner Schürze.
»Vollkommen recht, Schattentöter, Drache Saphira. König Orrins
Tafel wird es deshalb heute Nachmittag an nichts mangeln, oh
nein.«
Und dazu ein Fass
Met, sagte Saphira zu Eragon.
Als er diesen Wunsch weitergab, riss Quoth
die Augen so weit auf, dass das Weiße um seine Iris leuchtete.
»Ich... bedauerlicherweise haben die Zwerge fast den ganzen Vorrat
an M-m-met aufgekauft. Wir haben nur noch wenige Fässer übrig und
die sind alle für König...« Quoth zuckte vor dem mehr als armdicken
Feuerstrahl aus Saphiras Nüstern zurück, der das Gras vor ihm
versengte. Kleine Rauchsäulen kräuselten sich von den geschwärzten
Halmen in die Luft. »Ich... ich... ich lasse Euch sofort ein Fass
holen. Wenn Ihr mir jetzt f-folgen würdet, dann bringe ich Eu-euch
zu unserem Viehbestand, wo Ihr Euch ein Tier aussuchen
könnt.«
Der Koch führte sie um die Feuer, die Tische
und die arbeitenden Männer herum zu einer Reihe großer Holzpferche,
in denen sich Schweine, Rinder, Gänse, Ziegen, Schafe und Kaninchen
drängten, außerdem einiges an Wild, das von den Jägern der Varden
bei ihren Streifzügen durch die Wildnis gefangen worden war. Neben
den Pferchen standen Ställe mit Hühnern, Enten, Tauben, Wachteln,
Moorhühnern und anderem Geflügel. Die Kakofonie ihres Schnatterns,
Zirpens, Gurrens und Krähens war so schrill, dass Eragon
unwillkürlich mit den Zähnen knirschte. Um nicht von den Gedanken
und Gefühlen so vieler Kreaturen überwältigt zu werden, öffnete er
seinen Geist nur Saphira.
Sie blieben in einem Abstand von mehr als
hundert Fuß zu den Pferchen stehen, damit Saphiras Anblick die
gefangenen Tiere nicht in Panik versetzte. »Seht Ihr etwas, wonach
Euch gelüstet?«, fragte Quoth. Er sah nervös zu ihr hoch und rieb
sich beflissen die Hände.
Saphira ließ den Blick über die Pferche
gleiten und schnaufte. Welch eine
erbärmliche Beute... So hungrig bin ich eigentlich gar nicht, weißt
du? Ich habe erst vorgestern gejagt und verdaue noch die Knochen
des Rehs, das ich verspeist habe.
Aber du wächst immer
noch sehr schnell. Etwas zu essen, wird dir guttun.
Nicht, wenn ich es
nicht vertrage.
Dann such dir etwas
Kleines aus. Ein Schwein, zum Beispiel.
Das würde wohl kaum
weiterhelfen. Nein, ich nehme... die da. Sie schickte das
Bild einer mittelgroßen Kuh an Eragons Geist, ein Tier mit weißen
Flecken auf der linken Flanke.
Nachdem er Quoth die Kuh gezeigt hatte, rief
der einigen Männern, die an den Pferchen herumlungerten, einen
Befehl zu. Zwei von ihnen trennten die Kuh vom Rest der Herde,
banden ihr einen Strick um den Hals und zogen das sich heftig
sträubende Tier in Richtung Saphira. Als sie noch dreißig Fuß von
dem Drachen entfernt war, muhte die Kuh vor Entsetzen, versuchte,
das Seil abzuschütteln und zu fliehen. Bevor sie entkommen konnte,
sprang Saphira mit einem gewaltigen Satz auf sie zu. Die beiden
Männer, die die Kuh am Strick führten, warfen sich flach auf den
Boden, als Saphira angerauscht kam, und glotzten sie fassungslos
an.
Saphira erwischte die Kuh an der Flanke, als
sie gerade weglaufen wollte. Sie schleuderte das Tier zu Boden und
hielt es mit einer gespreizten Klaue fest. Das Rind stieß ein
letztes panisches Muhen aus, bevor Saphiras Kiefer sich um seinen
Hals schloss. Mit einem kurzen, heftigen Schütteln ihres Kopfes
brach sie der Kuh das Genick. Dann kauerte sie über ihrer Beute und
sah Eragon erwartungsvoll an.
Der schloss die Augen und tastete mit seinem
Geist nach der Kuh. Das Bewusstsein des Tieres verblasste bereits,
aber sein Körper lebte noch und vibrierte vor Energie, die die
Panik gerade eben freigesetzt hatte. Was Eragon jetzt tun musste,
widerte ihn an, aber er ignorierte das Gefühl. Er legte eine Hand
auf den Gürtel von Beloth dem Weisen und übertrug so viel
Lebenskraft, wie er konnte, von der Kuh in die zwölf im Gürtel
eingenähten Diamanten. Das Ganze dauerte nur ein paar
Sekunden.
Dann nickte er Saphira zu. Ich bin fertig.
Der Drachenreiter dankte den Männern für
ihre Hilfe und sie ließen ihn und Saphira allein.
Während Saphira sich satt fraß, setzte
Eragon sich, lehnte sich mit dem Rücken an das Metfass und sah den
Köchen bei der Arbeit zu. Jedes Mal wenn sie oder ihre Helfer ein
Huhn köpften oder einem Schwein oder einem anderen Tier die Gurgel
durchschnitten, übertrug er die Kraft des sterbenden Tieres in
Beloths Gürtel. Er musste sich immer wieder dazu überwinden, denn
die meisten Tiere lebten noch, wenn er ihr Bewusstsein berührte.
Der tosende Sturm ihrer Furcht, ihrer Verwirrung und ihres
Schmerzes hämmerte auf ihn ein, bis sein Herz raste, seine Stirn
mit Schweiß bedeckt war und er sich nichts sehnlicher wünschte, als
diese leidenden Kreaturen zu heilen. Er wusste natürlich, dass es
ihr Los war zu sterben, ansonsten würden die Varden
verhungern.
Bei den letzten Kämpfen hatte Eragon seine
Energiereserven fast völlig erschöpft, und er wollte sie auffüllen,
bevor er sich auf eine so lange und möglicherweise gefährliche
Reise machte. Hätte Nasuada ihm erlaubt, nur eine Woche länger bei
den Varden zu bleiben, hätte er Lebenskraft aus seinem eigenen
Körper in die Diamanten übertragen können und danach noch genug
Zeit gehabt, sich zu erholen, bevor er nach Farthen Dûr aufbrach.
Die wenigen Stunden, die ihm bis zur Abreise blieben, genügten
dafür jedoch nicht. Selbst wenn er nur im Bett gelegen hätte und
das Feuer in seinen Gliedern in die Edelsteine hätte strömen
lassen, hätte er nicht so viel Kraft sammeln können wie von den
vielen sterbenden Tieren.
Die Diamanten im Gürtel von Beloth dem
Weisen konnten eine nahezu unbegrenzte Menge Energie speichern.
Irgendwann konnte er die Vorstellung, sich noch einmal in die
Todesqualen eines Tieres zu versenken, nicht mehr ertragen und
hörte auf. Zitternd und von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, beugte
er sich vor. Er stützte die Hände auf die Knie, starrte auf den
Boden zwischen seinen Füßen und kämpfte gegen den aufsteigenden
Brechreiz an. Erinnerungen überfielen ihn, die nicht die seinen
waren, sondern Saphiras. Wie sie mit ihm über den Leona-See glitt,
wie sie zusammen in das klare, kalte Wasser gestürzt waren und eine
Wolke aus weißen Luftblasen an ihnen vorbei an die Oberfläche
trieb; an ihre gemeinsame Freude am Fliegen, Schwimmen und
Spielen.
Seine Atemzüge wurden ruhiger, und er
blickte zu Saphira, die zwischen den Resten ihrer Beute saß und auf
dem Schädel der Kuh herumkaute. Er lächelte und schickte ihr seinen
Dank für ihre Hilfe.
Wir können jetzt
gehen, sagte er dann.
Saphira schluckte. Nimm auch meine Lebenskraft. Du kannst sie
brauchen.
Nein.
Diesen Streit wirst du
nicht gewinnen. Ich bestehe darauf.
Ich ebenfalls. Ich
werde dich hier nicht geschwächt und kampfunfähig zurücklassen. Wir
beide müssen jederzeit kampfbereit sein. Was, wenn Murtagh und Dorn
heute noch angreifen? Dann schwebst du in weit größerer Gefahr als
ich, da Galbatorix und das ganze Imperium glauben, dass ich noch
bei dir bin.
Schon, aber du wirst
allein mit einem Kull durch die Wildnis laufen.
Ich bin genau wie du an
die Wildnis gewöhnt. Es macht mir keine Angst, mich abseits der
Zivilisation zu bewegen. Und was den Kull angeht... Ich weiß zwar
nicht, ob ich ihn bei einem Ringkampf besiegen könnte, aber meine
Schutzzauber bewahren mich vor jedem Verrat. Ich habe genug Energie
gespeichert, Saphira. Du brauchst mir keine mehr zu
geben.
Sie betrachtete ihn und dachte über seine
Worte nach. Schließlich hob sie eine Klaue und leckte das Blut
ab. Also gut. Dann behalte ich meine
Energie.Sie schmunzelte und ließ die Klaue
sinken. Wärst du so nett, mir das Fass
Met herüberzurollen?
Stöhnend rappelte Eragon sich auf und
erfüllte ihr den Wunsch. Sie fuhr eine Kralle aus und schlug damit
zwei Löcher in den Deckel des Fasses. Sofort stieg das süße Aroma
des Apfel-Honig-Mets in die Luft. Mit ihrem gewaltigen Kiefer
packte sie das Fass, hob es hoch und ließ den Inhalt in ihren
Rachen gluckern. Das leere Fass zersplitterte auf dem Boden, als
sie es fallen ließ, und einer der Eisenreifen rollte ein gutes
Stück weg. Ihre Oberlippe kräuselte sich, Saphira schüttelte den
Kopf und schnappte kurz nach Luft, bevor sie so heftig niesen
musste, dass ihre Nase auf den Boden prallte und ein Feuerstoß aus
Maul und Nüstern schoss.
Eragon schrie überrascht auf und sprang zur
Seite, während er hastig auf den qualmenden Saum seines Wamses
klopfte. Seine rechte Gesichtshälfte brannte von der Hitze des
Feuers. Pass doch auf, Saphira!,
rief er.
Hoppla. Sie
senkte den Kopf, rieb sich an einem Vorderbein den Staub von der
Nase und kratzte sich dann die Nüstern. Der Met kitzelt so.
Also wirklich, das
solltest du mittlerweile wissen, brummte er, während er
auf ihren Rücken kletterte.
Nachdem sie sich noch einmal die Schnauze
gerieben hatte, sprang Saphira hoch in die Luft, schwebte über dem
Lager und brachte ihn zu seinem Zelt zurück. Er glitt von ihrem
Rücken zu Boden und sah zu ihr hoch. Eine Weile sagten sie nichts,
sondern ließen einfach nur ihre Gefühle sprechen.
Saphira blinzelte, und Eragon hatte den
Eindruck, dass ihre Augen heller schimmerten als
gewöhnlich. Das ist eine
Prüfung, sagte sie. Bestehen
wir sie, werden wir danach stärker sein; als Drache und
Reiter.
Jeder von uns muss sich
alleine bewähren, sonst sind wir im Vergleich zu anderen im
Nachteil.
Ja. Sie
pflügte mit ihren gekrümmten Klauen die Erde. Dennoch lindert dieses Wissen nicht meinen
Schmerz. Ein Schauer lief über ihren Körper und sie
schlug sanft mit den Flügeln. Möge der
Wind deine Schwingen beflügeln und die Sonne immer in deinem Rücken
stehen. Reise sicher und reise schnell, mein Kleiner.
Auf
Wiedersehen, erwiderte er.
Eragon spürte, dass er es nie schaffen
würde, zu gehen, wenn er noch länger bei ihr blieb, also wirbelte
er herum und stürmte ohne einen Blick zurück in das dunkle Zelt.
Und er durchtrennte das Band zwischen ihnen, das so sehr Teil von
ihm geworden war wie die Fasern seines Körpers. Bald würden sie
ohnehin zu weit voneinander entfernt sein, als dass sie den Geist
des anderen noch wahrnehmen könnten, und er wollte die Qual des
Abschieds nicht noch verlängern. Er blieb einen Moment stehen,
umklammerte den Griff seines Schwertes und schwankte, als
schwindelte ihm. Der dumpfe Schmerz der Einsamkeit durchdrang ihn
bereits und ohne die tröstende Gegenwart von Saphiras Bewusstsein
fühlte er sich klein und allein. Ich habe
es schon einmal geschafft und ich kann es wieder
schaffen, sagte er sich. Er zwang sich, die Schultern zu
straffen und den Kopf zu heben.
Dann bückte er sich und zog unter der
Pritsche den Rucksack hervor, den er sich während seiner Reise vom
Helgrind gefertigt hatte. Er legte die in ein Tuch gewickelte
verzierte Holzröhre hinein, in der die Schriftrolle mit dem Gedicht
steckte, das er für die Blutschwur-Zeremonie verfasst und das
Oromis für ihn in seiner schönsten Kalligrafie niedergeschrieben
hatte. Außerdem die Flasche mit dem verzauberten Faelnirv und das
Specksteindöschen mit Nalgask, ebenfalls Geschenke von Oromis. Das
dicke Buch Domia abr Wyrda, das
ihm Jeod gegeben hatte, packte er auch ein. Wetzstein und Riemen
durften natürlich nicht fehlen und nach kurzem Zögern packte er
auch die vielen Teile seiner Rüstung ein. Denn, so sagte er sich, sollte ich sie brauchen, werde ich weit glücklicher
sein, wenn ich sie dabeihabe, als es mich verdrießt, sie den ganzen
Weg nach Farthen Dûr schleppen zu müssen. Jedenfalls
hoffte er das. Das Buch und die Schriftrolle hatte er eingepackt,
weil er nach seinen vielen Reisen zu dem Schluss gekommen war, dass
er Dinge, an denen er hing, am besten überallhin mitnahm, wenn er
sie nicht verlieren wollte.
Als zusätzliche Kleidungstücke nahm er nur
ein paar Handschuhe mit, die er in seinen Helm stopfte, und den
schweren wollenen Umhang für den Fall, dass es kalt werden würde,
wenn sie nachts rasteten. Den Rest ließ er in Saphiras
Satteltaschen. Wenn ich wirklich ein
Mitglied des Dûrgrimst Ingietum bin, dachte
er, werden sie mir sicher angemessene
Kleidung zur Verfügung stellen, sobald ich in der Festung Bregan
ankomme.
Er öffnete die Gurte des Rucksacks, legte
den Bogen und den Köcher obendrauf und band sie an das Gestell. Er
wollte gerade das Krummschwert dazulegen, als ihm auffiel, dass die
Klinge aus der Scheide rutschen könnte, wenn er sich zur Seite
beugte. Deshalb befestigte er die Waffe senkrecht an der Rückseite
des Rucksacks, sodass der Griff zwischen seinem Hals und der
rechten Schulter herausragte. So konnte er das Schwert jederzeit
ziehen.
Dann durchstieß er die Mauer um seinen Geist
und fühlte, wie die Energie durch seinen Körper und die zwölf
Edelsteine brandete. Er zapfte den Kraftstrom an und murmelte den
Zauber, den er erst einmal gewirkt hatte: Es war jene Beschwörung,
die die Reflektionen des Lichts um ihn herumlenkte und ihn dadurch
unsichtbar machte. Eine leichte Müdigkeit überkam ihn.
Er sah an sich hinunter. Es war eine etwas
verstörende Erfahrung, ungehindert durch seinen Oberkörper und die
Beine hindurch auf seine Fußabdrücke im Sand blicken zu
können.
Und jetzt zum
schwierigen Teil, sagte er sich.
Er ging zur hinteren Zeltwand, schnitt mit
seinem Jagdmesser einen langen Schlitz in das feste Material und
zwängte sich durch die Öffnung. Bloëdhgarm wartete bereits auf ihn,
geschmeidig wie eine Katze. Der Wolfkatzenelf neigte den Kopf
ungefähr in seine Richtung. »Schattentöter«, murmelte er und
flickte den Riss mithilfe eines halben Dutzend Wörter in der alten
Sprache.
Eragon schlich den Pfad zwischen zwei
Zeltreihen entlang und nutzte seine Erfahrungen bei der Jagd, um so
leise wie möglich zu sein. Sobald sich jemand näherte, verließ er
den Pfad und verharrte regungslos zwischen den Zelten. Er hoffte,
dass niemand die Spuren im Staub und Gras bemerkte, und verwünschte
die Trockenheit; seine Stiefel wirbelten kleine Staubwolken auf,
auch wenn er noch so behutsam auftrat. Zu seiner Überraschung wurde
sein Gleichgewichtssinn dadurch beeinträchtigt, dass er unsichtbar
war: weil er seine Hände und Füße nicht sehen konnte, schätzte er
Entfernungen falsch ein und stieß ständig irgendwo an, fast als
hätte er zu viel Bier getrunken.
Trotz dieser Unsicherheiten erreichte er
nach kurzer Zeit unbemerkt den Rand des Lagers. Hinter einem
Regenfass, dessen dunkler Schatten seine Fußabdrücke verbarg, blieb
er stehen und musterte die Erdwälle und die Gräben mit den spitzen
Pfählen, die die östliche Flanke der Varden schützten. Es wäre
äußerst schwierig gewesen, in das Lager zu gelangen, ohne dabei von
einem der vielen Wachposten entdeckt zu werden, die auf den Wällen
patrouillierten, selbst wenn man unsichtbar war. Da die Gräben und
Wälle jedoch errichtet worden waren, um die Angreifer abzuwehren
und nicht die Lagernden einzusperren, war es erheblich leichter,
sie von innen zu überwinden.
Eragon wartete, bis ihm die beiden
Wachposten in seiner Nähe den Rücken zukehrten, dann sprintete er
los, so schnell er konnte. In nur wenigen Sekunden hatte er die
etwa hundert Fuß vom Regenfass bis zum Erdwall überwunden und
rannte ihn so rasch hinauf, dass er sich fast wie ein Stein vorkam,
der über das Wasser hüpfte. Auf der Kuppe stieß er sich mit aller
Kraft vom Boden ab und sprang mit rudernden Armen über die
Verteidigungslinie der Varden. Drei Herzschläge lang flog er durch
die Luft, bis er mit einem Ruck landete, der ihm durch Mark und
Bein ging.
Nachdem er sich gefangen hatte, legte er
sich flach auf den Boden und hielt den Atem an. Einer der
Wachposten blieb stehen und sah sich um, schien jedoch nichts
Ungewöhnliches zu bemerken, denn nach einem Moment setzte er seinen
Gang fort. Eragon atmete erleichtert aus, flüsterte:»Du Deloi lunaea«, und spürte, wie der
Zauberspruch die Fußspuren glättete, die er auf dem Wall
hinterlassen hatte.
Nach wie vor unsichtbar stand er auf und
entfernte sich langsam vom Lager, sorgsam darum bemüht, nur auf
Grasbüschel zu treten, damit er nicht noch mehr Staub aufwirbelte.
Je weiter er sich von den Wachposten entfernte, desto schneller
lief er, bis er rascher über das Land eilte als ein galoppierendes
Pferd.
Eine knappe Stunde später rutschte er mit
großen Schritten die steile Böschung einer Senke hinab, die Wind
und Wasser in die Steppe gegraben hatten. Am Boden floss ein Bach,
dessen Ufer mit Binsen und Schilfrohr bewachsen war. Er folgte ihm
flussabwärts, hielt sich aber von dem weichen Boden neben dem
Wasser fern, um keine Spuren zu hinterlassen. Schließlich
verbreiterte sich der Bach zu einem kleinen Weiher, an dessen Rand
ein halb nackter Kull auf einem Felsbrocken saß.
Als sich Eragon durch das dichte Schilf
schlängelte, verrieten das trockene Rascheln der Blätter und Binsen
dem Gehörnten sein Kommen. Die Kreatur drehte den gewaltigen
Schädel in seine Richtung und sog witternd die Luft ein. Es war Nar
Garzhvog, der Anführer der mit den Varden verbündeten Urgals.
»Du!« Eragon löste den Zauber und wurde
sichtbar.
»Sei gegrüßt, Feuerschwert«, grollte
Garzhvog. Muskeln tanzten unter der grauen, in der Mittagssonne
schimmernden Haut, als er seinen massigen Körper hochwuchtete und
sich zu seiner vollen Größe von achteinhalb Fuß aufrichtete.
»Sei gegrüßt, Nar Garzhvog«, erwiderte
Eragon. Neugierig fuhr er fort: »Was ist mit deinen Gehörnten? Wer
wird sie führen, wenn du mit mir gehst?«
»Mein Blutsbruder Skgahgrezh. Er ist zwar
kein Kull, aber er hat lange Hörner und einen mächtigen Nacken. Er
ist ein ausgezeichneter Kriegsherr.«
»Verstehe... Und warum
willst du mich
begleiten?«
Der Urgal hob den kantigen Schädel und
entblößte seinen verletzlichen Hals. »Du bist Feuerschwert. Du
darfst nicht sterben oder die Urgralgra - die Urgals, wie ihr uns
nennt - können keine Rache an Galbatorix nehmen und unser Volk wird
untergehen. Deshalb werde ich an deiner Seite laufen. Ich bin der
beste unserer Kämpfer. Ich habe zweiundvierzig Gehörnte im Kampf
Mann gegen Mann besiegt.«
Eragon nickte, ganz zufrieden damit, wie
sich die Dinge entwickelten. Von allen Urgals vertraute er Garzhvog
am meisten. Er hatte den Geist des Kull vor der Schlacht auf den
Brennenden Steppen erforscht und herausgefunden, dass Garzhvog,
zumindest nach den Maßstäben seiner Spezies, ehrlich und
zuverlässig war. Solange er nicht glaubt,
dass seine Ehre es verlangt, mich zum Duell zu fordern, werden wir
keinen Streit bekommen.
»Ausgezeichnet, Nar Garzhvog«, erwiderte der
Drachenreiter und zog den Bauchriemen seines Rucksacks fester.
»Dann lass uns zusammen laufen, du und ich, Kull und Drachenreiter,
so wie es in der Geschichte Alagaësias noch nie geschehen
ist.«
Ein dunkles Lachen rollte durch Garzhvogs
Brust. »Lass uns laufen, Feuerschwert.«
Sie wandten sich nach Osten in Richtung
Beor-Gebirge. Eragon lief leichtfüßig und schnell, brauchte aber
für jeden Schritt des Kull, der die Erde zum Erbeben brachte,
zwei.
Vor ihnen am Horizont sammelten sich dicke
Gewitterwolken, die einen heftigen Wolkenbruch ankündeten; über
ihnen stießen kreisende Falken auf ihrer Jagd nach Beute schrille
Schreie aus.