SPURLOS VERSCHWUNDEN

Mit einigen schwindelerregenden Sprüngen trug Saphira Eragon durch das Lager zu Rorans und Katrinas Zelt. Vor dem Zelt schrubbte Katrina gerade ein Nachthemd auf einem Waschbrett, das in einem Eimer mit Seifenlauge stand. Sie hob die Hand und schützte ihre Augen vor der Staubwolke, die Saphira bei der Landung aufwirbelte.
Roran trat heraus und schnallte seinen Gürtel zu. Er hustete und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch den Staub. »Was führt dich her?«, erkundigte er sich, als Eragon abstieg.
Er erzählte den beiden hastig von seiner bevorstehenden Abreise und schärfte ihnen ein, sein Verschwinden unbedingt vor dem Rest der Dorfbewohner geheim zu halten. »Ganz gleich wie gekränkt sie sein mögen, weil ich sie angeblich nicht sehen will, ihr dürft ihnen auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Nicht einmal Horst oder Elain. Bevor ihr auch nur ein Wort über Nasuadas Plan verliert, sollen sie mich lieber für einen unhöflichen, undankbaren Rüpel halten. Ich bitte euch zum Wohl aller, die gegen das Imperium kämpfen. Werdet ihr das tun?«
»Wir würden dich niemals verraten, Eragon«, versicherte ihm Katrina. »Daran solltest du nie zweifeln.«
Dann teilte Roran ihm mit, dass er ausrücken würde.
»Wohin?«, rief der Drachenreiter erstaunt.
»Ich habe den Befehl erst vor ein paar Minuten erhalten. Wir überfallen einen Nachschub-Konvoi des Imperiums hinter den feindlichen Linien, irgendwo im Norden.«
Eragon betrachtete sie der Reihe nach. Roran wirkte ernst und entschlossen, angespannt in Erwartung des bevorstehenden Kampfes, Katrina versuchte, ihre Besorgnis zu verbergen, und um Saphiras geblähte Nüstern flackerten kleine Flammen, die bei jedem Atemzug zischten. »Wir trennen uns also alle.« Was er nicht aussprach, schwebte wie ein Leichentuch über ihnen - die Möglichkeit, dass sie sich vielleicht nicht mehr lebend wiedersehen würden.
Roran packte Eragons Unterarm, zog seinen Cousin an sich und umarmte ihn kurz. Dann ließ er ihn wieder los und starrte ihm in die Augen. »Pass gut auf dich auf, Cousin. Galbatorix ist nicht der Einzige, der dir liebend gern ein Messer zwischen die Rippen jagen würde, wenn du gerade nicht hinsiehst.«
»Dasselbe gilt für dich. Und wenn du es mit einem Magier zu tun bekommst, renn in die entgegengesetzte Richtung davon. Die Schutzzauber, mit denen ich dich belegt habe, halten nicht ewig.«
Katrina umarmte Eragon. »Bleib nicht zu lange weg«, flüsterte sie.
»Ich versuch’s.«
Anschließend gingen Roran und Katrina zu Saphira und berührten mit der Stirn ihre lange, knochige Schnauze. Aus Saphiras Kehle drang ein tiefes Summen, das ihre Brust vibrieren ließ. Denk daran, Roran, sagte sie, begehe nicht den Fehler, deine Feinde am Leben zu lassen. Und Katrina, grüble nicht über das nach, was du nicht ändern kannst. Es wird deinen Schmerz nur verschlimmern. Mit einem leisen Rascheln ihrer Schuppen breitete Saphira die Flügel aus und umfing damit Roran, Katrina und Eragon in einer warmen Umarmung, abgeschirmt vom Rest der Welt.
Als Saphira die Schwingen hob, traten Roran und Katrina zurück, während Eragon auf ihren Rücken kletterte. Mit einem Kloß im Hals winkte er dem frisch verheirateten Paar zu, und er winkte noch, als Saphira sich abstieß und in die Luft schnellte. Nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten. Er lehnte sich gegen die Rückenzacke hinter ihm und blickte in den Himmel.
Zu den Kochzelten?, wollte Saphira wissen.
Ja.
Saphira flog ein paar hundert Fuß hoch und nahm Kurs auf den südwestlichen Teil des Lagers, wo Rauchsäulen von vielen Öfen und großen, offenen Feuergruben in den Himmel aufstiegen. Der Wind rauschte sacht an ihnen vorbei, als sie zu einem freien Platz zwischen zwei offen stehenden, etwa fünfzehn Fuß langen Zelten hinabsanken. Das Frühstück war bereits zu Ende, daher waren sie menschenleer, als Saphira mit einem vernehmlichen Plumps landete.
Eragon eilte mit ihr zu den Feuern hinter den Holztischen. Die mehreren Hundert dort beschäftigten Männer unterbrachen ihre Tätigkeiten nicht, um Eragon und Saphira anzustarren. Sie kümmerten sich weiter um die Feuer, hackten Fleisch, schlugen Eier auf, kneteten Teig, rührten in eisernen Kesseln mit geheimnisvollen Flüssigkeiten, wuschen riesige Berge von schmutzigen Töpfen und Geschirr oder widmeten sich auf andere Weise der gewaltigen, nie enden wollenden Aufgabe, Mahlzeiten für die Varden zu bereiten. Was waren schon ein Drache und sein Reiter, verglichen mit dem gierigen Appetit des vielköpfigen Geschöpfs, dessen Mäuler sie zu stopfen hatten?
Ein untersetzter Mann mit einem kurz geschorenen, grau melierten Bart kam auf die beiden zu und verbeugte sich knapp. Er war so klein, dass er fast als Zwerg hätte durchgehen können. »Ich bin Quoth Merrinsson. Wie kann ich Euch dienen? Wir haben gerade Brot gebacken, Schattentöter. Möchtet Ihr?« Er deutete auf einen Tisch, auf dem eine Platte mit zwei Reihen Sauerteigbroten stand.
»Ich nehme gern einen halben Laib, wenn ihr ihn erübrigen könnt«, antwortete Eragon. »Aber wir sind nicht hergekommen, weil ich hungrig bin.Saphira möchte etwas fressen. Sonst geht sie immer auf die Jagd, aber dazu fehlt uns heute die Zeit.«
Quoth starrte an ihm vorbei auf Saphiras massigen Körper und wurde blass. »Wie viel frisst sie denn normalerweise... Ich meine, wie viel esst Ihr normalerweise, Saphira? Ich könnte Euch sofort sechs gebratene Rinderhälften bringen lassen; sechs weitere sind ungefähr in einer Viertelstunde fertig. Genügt das, oder...?« Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte.
Saphira stieß ein leises Knurren aus, woraufhin Quoth mit einem spitzen Schrei zurücksprang.
»Sie würde ein lebendes Tier vorziehen, wenn es dir recht ist«, erklärte Eragon.
»Recht?«, quiekte Quoth. »Es ist mir recht.« Er nickte und zerrte mit fettigen Händen an seiner Schürze. »Vollkommen recht, Schattentöter, Drache Saphira. König Orrins Tafel wird es deshalb heute Nachmittag an nichts mangeln, oh nein.«
Und dazu ein Fass Met, sagte Saphira zu Eragon.
Als er diesen Wunsch weitergab, riss Quoth die Augen so weit auf, dass das Weiße um seine Iris leuchtete. »Ich... bedauerlicherweise haben die Zwerge fast den ganzen Vorrat an M-m-met aufgekauft. Wir haben nur noch wenige Fässer übrig und die sind alle für König...« Quoth zuckte vor dem mehr als armdicken Feuerstrahl aus Saphiras Nüstern zurück, der das Gras vor ihm versengte. Kleine Rauchsäulen kräuselten sich von den geschwärzten Halmen in die Luft. »Ich... ich... ich lasse Euch sofort ein Fass holen. Wenn Ihr mir jetzt f-folgen würdet, dann bringe ich Eu-euch zu unserem Viehbestand, wo Ihr Euch ein Tier aussuchen könnt.«
Der Koch führte sie um die Feuer, die Tische und die arbeitenden Männer herum zu einer Reihe großer Holzpferche, in denen sich Schweine, Rinder, Gänse, Ziegen, Schafe und Kaninchen drängten, außerdem einiges an Wild, das von den Jägern der Varden bei ihren Streifzügen durch die Wildnis gefangen worden war. Neben den Pferchen standen Ställe mit Hühnern, Enten, Tauben, Wachteln, Moorhühnern und anderem Geflügel. Die Kakofonie ihres Schnatterns, Zirpens, Gurrens und Krähens war so schrill, dass Eragon unwillkürlich mit den Zähnen knirschte. Um nicht von den Gedanken und Gefühlen so vieler Kreaturen überwältigt zu werden, öffnete er seinen Geist nur Saphira.
Sie blieben in einem Abstand von mehr als hundert Fuß zu den Pferchen stehen, damit Saphiras Anblick die gefangenen Tiere nicht in Panik versetzte. »Seht Ihr etwas, wonach Euch gelüstet?«, fragte Quoth. Er sah nervös zu ihr hoch und rieb sich beflissen die Hände.
Saphira ließ den Blick über die Pferche gleiten und schnaufte. Welch eine erbärmliche Beute... So hungrig bin ich eigentlich gar nicht, weißt du? Ich habe erst vorgestern gejagt und verdaue noch die Knochen des Rehs, das ich verspeist habe.
Aber du wächst immer noch sehr schnell. Etwas zu essen, wird dir guttun.
Nicht, wenn ich es nicht vertrage.
Dann such dir etwas Kleines aus. Ein Schwein, zum Beispiel.
Das würde wohl kaum weiterhelfen. Nein, ich nehme... die da. Sie schickte das Bild einer mittelgroßen Kuh an Eragons Geist, ein Tier mit weißen Flecken auf der linken Flanke.
Nachdem er Quoth die Kuh gezeigt hatte, rief der einigen Männern, die an den Pferchen herumlungerten, einen Befehl zu. Zwei von ihnen trennten die Kuh vom Rest der Herde, banden ihr einen Strick um den Hals und zogen das sich heftig sträubende Tier in Richtung Saphira. Als sie noch dreißig Fuß von dem Drachen entfernt war, muhte die Kuh vor Entsetzen, versuchte, das Seil abzuschütteln und zu fliehen. Bevor sie entkommen konnte, sprang Saphira mit einem gewaltigen Satz auf sie zu. Die beiden Männer, die die Kuh am Strick führten, warfen sich flach auf den Boden, als Saphira angerauscht kam, und glotzten sie fassungslos an.
Saphira erwischte die Kuh an der Flanke, als sie gerade weglaufen wollte. Sie schleuderte das Tier zu Boden und hielt es mit einer gespreizten Klaue fest. Das Rind stieß ein letztes panisches Muhen aus, bevor Saphiras Kiefer sich um seinen Hals schloss. Mit einem kurzen, heftigen Schütteln ihres Kopfes brach sie der Kuh das Genick. Dann kauerte sie über ihrer Beute und sah Eragon erwartungsvoll an.
Der schloss die Augen und tastete mit seinem Geist nach der Kuh. Das Bewusstsein des Tieres verblasste bereits, aber sein Körper lebte noch und vibrierte vor Energie, die die Panik gerade eben freigesetzt hatte. Was Eragon jetzt tun musste, widerte ihn an, aber er ignorierte das Gefühl. Er legte eine Hand auf den Gürtel von Beloth dem Weisen und übertrug so viel Lebenskraft, wie er konnte, von der Kuh in die zwölf im Gürtel eingenähten Diamanten. Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden.
Dann nickte er Saphira zu. Ich bin fertig.
Der Drachenreiter dankte den Männern für ihre Hilfe und sie ließen ihn und Saphira allein.
Während Saphira sich satt fraß, setzte Eragon sich, lehnte sich mit dem Rücken an das Metfass und sah den Köchen bei der Arbeit zu. Jedes Mal wenn sie oder ihre Helfer ein Huhn köpften oder einem Schwein oder einem anderen Tier die Gurgel durchschnitten, übertrug er die Kraft des sterbenden Tieres in Beloths Gürtel. Er musste sich immer wieder dazu überwinden, denn die meisten Tiere lebten noch, wenn er ihr Bewusstsein berührte. Der tosende Sturm ihrer Furcht, ihrer Verwirrung und ihres Schmerzes hämmerte auf ihn ein, bis sein Herz raste, seine Stirn mit Schweiß bedeckt war und er sich nichts sehnlicher wünschte, als diese leidenden Kreaturen zu heilen. Er wusste natürlich, dass es ihr Los war zu sterben, ansonsten würden die Varden verhungern.
Bei den letzten Kämpfen hatte Eragon seine Energiereserven fast völlig erschöpft, und er wollte sie auffüllen, bevor er sich auf eine so lange und möglicherweise gefährliche Reise machte. Hätte Nasuada ihm erlaubt, nur eine Woche länger bei den Varden zu bleiben, hätte er Lebenskraft aus seinem eigenen Körper in die Diamanten übertragen können und danach noch genug Zeit gehabt, sich zu erholen, bevor er nach Farthen Dûr aufbrach. Die wenigen Stunden, die ihm bis zur Abreise blieben, genügten dafür jedoch nicht. Selbst wenn er nur im Bett gelegen hätte und das Feuer in seinen Gliedern in die Edelsteine hätte strömen lassen, hätte er nicht so viel Kraft sammeln können wie von den vielen sterbenden Tieren.
Die Diamanten im Gürtel von Beloth dem Weisen konnten eine nahezu unbegrenzte Menge Energie speichern. Irgendwann konnte er die Vorstellung, sich noch einmal in die Todesqualen eines Tieres zu versenken, nicht mehr ertragen und hörte auf. Zitternd und von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, beugte er sich vor. Er stützte die Hände auf die Knie, starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen und kämpfte gegen den aufsteigenden Brechreiz an. Erinnerungen überfielen ihn, die nicht die seinen waren, sondern Saphiras. Wie sie mit ihm über den Leona-See glitt, wie sie zusammen in das klare, kalte Wasser gestürzt waren und eine Wolke aus weißen Luftblasen an ihnen vorbei an die Oberfläche trieb; an ihre gemeinsame Freude am Fliegen, Schwimmen und Spielen.
Seine Atemzüge wurden ruhiger, und er blickte zu Saphira, die zwischen den Resten ihrer Beute saß und auf dem Schädel der Kuh herumkaute. Er lächelte und schickte ihr seinen Dank für ihre Hilfe.
Wir können jetzt gehen, sagte er dann.
Saphira schluckte. Nimm auch meine Lebenskraft. Du kannst sie brauchen.
Nein.
Diesen Streit wirst du nicht gewinnen. Ich bestehe darauf.
Ich ebenfalls. Ich werde dich hier nicht geschwächt und kampfunfähig zurücklassen. Wir beide müssen jederzeit kampfbereit sein. Was, wenn Murtagh und Dorn heute noch angreifen? Dann schwebst du in weit größerer Gefahr als ich, da Galbatorix und das ganze Imperium glauben, dass ich noch bei dir bin.
Schon, aber du wirst allein mit einem Kull durch die Wildnis laufen.
Ich bin genau wie du an die Wildnis gewöhnt. Es macht mir keine Angst, mich abseits der Zivilisation zu bewegen. Und was den Kull angeht... Ich weiß zwar nicht, ob ich ihn bei einem Ringkampf besiegen könnte, aber meine Schutzzauber bewahren mich vor jedem Verrat. Ich habe genug Energie gespeichert, Saphira. Du brauchst mir keine mehr zu geben.
Sie betrachtete ihn und dachte über seine Worte nach. Schließlich hob sie eine Klaue und leckte das Blut ab. Also gut. Dann behalte ich meine Energie.Sie schmunzelte und ließ die Klaue sinken. Wärst du so nett, mir das Fass Met herüberzurollen?
Stöhnend rappelte Eragon sich auf und erfüllte ihr den Wunsch. Sie fuhr eine Kralle aus und schlug damit zwei Löcher in den Deckel des Fasses. Sofort stieg das süße Aroma des Apfel-Honig-Mets in die Luft. Mit ihrem gewaltigen Kiefer packte sie das Fass, hob es hoch und ließ den Inhalt in ihren Rachen gluckern. Das leere Fass zersplitterte auf dem Boden, als sie es fallen ließ, und einer der Eisenreifen rollte ein gutes Stück weg. Ihre Oberlippe kräuselte sich, Saphira schüttelte den Kopf und schnappte kurz nach Luft, bevor sie so heftig niesen musste, dass ihre Nase auf den Boden prallte und ein Feuerstoß aus Maul und Nüstern schoss.
Eragon schrie überrascht auf und sprang zur Seite, während er hastig auf den qualmenden Saum seines Wamses klopfte. Seine rechte Gesichtshälfte brannte von der Hitze des Feuers. Pass doch auf, Saphira!, rief er.
Hoppla. Sie senkte den Kopf, rieb sich an einem Vorderbein den Staub von der Nase und kratzte sich dann die Nüstern. Der Met kitzelt so.
Also wirklich, das solltest du mittlerweile wissen, brummte er, während er auf ihren Rücken kletterte.
Nachdem sie sich noch einmal die Schnauze gerieben hatte, sprang Saphira hoch in die Luft, schwebte über dem Lager und brachte ihn zu seinem Zelt zurück. Er glitt von ihrem Rücken zu Boden und sah zu ihr hoch. Eine Weile sagten sie nichts, sondern ließen einfach nur ihre Gefühle sprechen.
Saphira blinzelte, und Eragon hatte den Eindruck, dass ihre Augen heller schimmerten als gewöhnlich. Das ist eine Prüfung, sagte sie. Bestehen wir sie, werden wir danach stärker sein; als Drache und Reiter.
Jeder von uns muss sich alleine bewähren, sonst sind wir im Vergleich zu anderen im Nachteil.
Ja. Sie pflügte mit ihren gekrümmten Klauen die Erde. Dennoch lindert dieses Wissen nicht meinen Schmerz. Ein Schauer lief über ihren Körper und sie schlug sanft mit den Flügeln. Möge der Wind deine Schwingen beflügeln und die Sonne immer in deinem Rücken stehen. Reise sicher und reise schnell, mein Kleiner.
Auf Wiedersehen, erwiderte er.
Eragon spürte, dass er es nie schaffen würde, zu gehen, wenn er noch länger bei ihr blieb, also wirbelte er herum und stürmte ohne einen Blick zurück in das dunkle Zelt. Und er durchtrennte das Band zwischen ihnen, das so sehr Teil von ihm geworden war wie die Fasern seines Körpers. Bald würden sie ohnehin zu weit voneinander entfernt sein, als dass sie den Geist des anderen noch wahrnehmen könnten, und er wollte die Qual des Abschieds nicht noch verlängern. Er blieb einen Moment stehen, umklammerte den Griff seines Schwertes und schwankte, als schwindelte ihm. Der dumpfe Schmerz der Einsamkeit durchdrang ihn bereits und ohne die tröstende Gegenwart von Saphiras Bewusstsein fühlte er sich klein und allein. Ich habe es schon einmal geschafft und ich kann es wieder schaffen, sagte er sich. Er zwang sich, die Schultern zu straffen und den Kopf zu heben.
Dann bückte er sich und zog unter der Pritsche den Rucksack hervor, den er sich während seiner Reise vom Helgrind gefertigt hatte. Er legte die in ein Tuch gewickelte verzierte Holzröhre hinein, in der die Schriftrolle mit dem Gedicht steckte, das er für die Blutschwur-Zeremonie verfasst und das Oromis für ihn in seiner schönsten Kalligrafie niedergeschrieben hatte. Außerdem die Flasche mit dem verzauberten Faelnirv und das Specksteindöschen mit Nalgask, ebenfalls Geschenke von Oromis. Das dicke Buch Domia abr Wyrda, das ihm Jeod gegeben hatte, packte er auch ein. Wetzstein und Riemen durften natürlich nicht fehlen und nach kurzem Zögern packte er auch die vielen Teile seiner Rüstung ein. Denn, so sagte er sich, sollte ich sie brauchen, werde ich weit glücklicher sein, wenn ich sie dabeihabe, als es mich verdrießt, sie den ganzen Weg nach Farthen Dûr schleppen zu müssen. Jedenfalls hoffte er das. Das Buch und die Schriftrolle hatte er eingepackt, weil er nach seinen vielen Reisen zu dem Schluss gekommen war, dass er Dinge, an denen er hing, am besten überallhin mitnahm, wenn er sie nicht verlieren wollte.
Als zusätzliche Kleidungstücke nahm er nur ein paar Handschuhe mit, die er in seinen Helm stopfte, und den schweren wollenen Umhang für den Fall, dass es kalt werden würde, wenn sie nachts rasteten. Den Rest ließ er in Saphiras Satteltaschen. Wenn ich wirklich ein Mitglied des Dûrgrimst Ingietum bin, dachte er, werden sie mir sicher angemessene Kleidung zur Verfügung stellen, sobald ich in der Festung Bregan ankomme.
Er öffnete die Gurte des Rucksacks, legte den Bogen und den Köcher obendrauf und band sie an das Gestell. Er wollte gerade das Krummschwert dazulegen, als ihm auffiel, dass die Klinge aus der Scheide rutschen könnte, wenn er sich zur Seite beugte. Deshalb befestigte er die Waffe senkrecht an der Rückseite des Rucksacks, sodass der Griff zwischen seinem Hals und der rechten Schulter herausragte. So konnte er das Schwert jederzeit ziehen.
Dann durchstieß er die Mauer um seinen Geist und fühlte, wie die Energie durch seinen Körper und die zwölf Edelsteine brandete. Er zapfte den Kraftstrom an und murmelte den Zauber, den er erst einmal gewirkt hatte: Es war jene Beschwörung, die die Reflektionen des Lichts um ihn herumlenkte und ihn dadurch unsichtbar machte. Eine leichte Müdigkeit überkam ihn.
Er sah an sich hinunter. Es war eine etwas verstörende Erfahrung, ungehindert durch seinen Oberkörper und die Beine hindurch auf seine Fußabdrücke im Sand blicken zu können.
Und jetzt zum schwierigen Teil, sagte er sich.
Er ging zur hinteren Zeltwand, schnitt mit seinem Jagdmesser einen langen Schlitz in das feste Material und zwängte sich durch die Öffnung. Bloëdhgarm wartete bereits auf ihn, geschmeidig wie eine Katze. Der Wolfkatzenelf neigte den Kopf ungefähr in seine Richtung. »Schattentöter«, murmelte er und flickte den Riss mithilfe eines halben Dutzend Wörter in der alten Sprache.
Eragon schlich den Pfad zwischen zwei Zeltreihen entlang und nutzte seine Erfahrungen bei der Jagd, um so leise wie möglich zu sein. Sobald sich jemand näherte, verließ er den Pfad und verharrte regungslos zwischen den Zelten. Er hoffte, dass niemand die Spuren im Staub und Gras bemerkte, und verwünschte die Trockenheit; seine Stiefel wirbelten kleine Staubwolken auf, auch wenn er noch so behutsam auftrat. Zu seiner Überraschung wurde sein Gleichgewichtssinn dadurch beeinträchtigt, dass er unsichtbar war: weil er seine Hände und Füße nicht sehen konnte, schätzte er Entfernungen falsch ein und stieß ständig irgendwo an, fast als hätte er zu viel Bier getrunken.
Trotz dieser Unsicherheiten erreichte er nach kurzer Zeit unbemerkt den Rand des Lagers. Hinter einem Regenfass, dessen dunkler Schatten seine Fußabdrücke verbarg, blieb er stehen und musterte die Erdwälle und die Gräben mit den spitzen Pfählen, die die östliche Flanke der Varden schützten. Es wäre äußerst schwierig gewesen, in das Lager zu gelangen, ohne dabei von einem der vielen Wachposten entdeckt zu werden, die auf den Wällen patrouillierten, selbst wenn man unsichtbar war. Da die Gräben und Wälle jedoch errichtet worden waren, um die Angreifer abzuwehren und nicht die Lagernden einzusperren, war es erheblich leichter, sie von innen zu überwinden.
Eragon wartete, bis ihm die beiden Wachposten in seiner Nähe den Rücken zukehrten, dann sprintete er los, so schnell er konnte. In nur wenigen Sekunden hatte er die etwa hundert Fuß vom Regenfass bis zum Erdwall überwunden und rannte ihn so rasch hinauf, dass er sich fast wie ein Stein vorkam, der über das Wasser hüpfte. Auf der Kuppe stieß er sich mit aller Kraft vom Boden ab und sprang mit rudernden Armen über die Verteidigungslinie der Varden. Drei Herzschläge lang flog er durch die Luft, bis er mit einem Ruck landete, der ihm durch Mark und Bein ging.
Nachdem er sich gefangen hatte, legte er sich flach auf den Boden und hielt den Atem an. Einer der Wachposten blieb stehen und sah sich um, schien jedoch nichts Ungewöhnliches zu bemerken, denn nach einem Moment setzte er seinen Gang fort. Eragon atmete erleichtert aus, flüsterte:»Du Deloi lunaea«, und spürte, wie der Zauberspruch die Fußspuren glättete, die er auf dem Wall hinterlassen hatte.
Nach wie vor unsichtbar stand er auf und entfernte sich langsam vom Lager, sorgsam darum bemüht, nur auf Grasbüschel zu treten, damit er nicht noch mehr Staub aufwirbelte. Je weiter er sich von den Wachposten entfernte, desto schneller lief er, bis er rascher über das Land eilte als ein galoppierendes Pferd.
Eine knappe Stunde später rutschte er mit großen Schritten die steile Böschung einer Senke hinab, die Wind und Wasser in die Steppe gegraben hatten. Am Boden floss ein Bach, dessen Ufer mit Binsen und Schilfrohr bewachsen war. Er folgte ihm flussabwärts, hielt sich aber von dem weichen Boden neben dem Wasser fern, um keine Spuren zu hinterlassen. Schließlich verbreiterte sich der Bach zu einem kleinen Weiher, an dessen Rand ein halb nackter Kull auf einem Felsbrocken saß.
Als sich Eragon durch das dichte Schilf schlängelte, verrieten das trockene Rascheln der Blätter und Binsen dem Gehörnten sein Kommen. Die Kreatur drehte den gewaltigen Schädel in seine Richtung und sog witternd die Luft ein. Es war Nar Garzhvog, der Anführer der mit den Varden verbündeten Urgals.
»Du!« Eragon löste den Zauber und wurde sichtbar.
»Sei gegrüßt, Feuerschwert«, grollte Garzhvog. Muskeln tanzten unter der grauen, in der Mittagssonne schimmernden Haut, als er seinen massigen Körper hochwuchtete und sich zu seiner vollen Größe von achteinhalb Fuß aufrichtete.
»Sei gegrüßt, Nar Garzhvog«, erwiderte Eragon. Neugierig fuhr er fort: »Was ist mit deinen Gehörnten? Wer wird sie führen, wenn du mit mir gehst?«
»Mein Blutsbruder Skgahgrezh. Er ist zwar kein Kull, aber er hat lange Hörner und einen mächtigen Nacken. Er ist ein ausgezeichneter Kriegsherr.«
»Verstehe... Und warum willst du mich begleiten?«
Der Urgal hob den kantigen Schädel und entblößte seinen verletzlichen Hals. »Du bist Feuerschwert. Du darfst nicht sterben oder die Urgralgra - die Urgals, wie ihr uns nennt - können keine Rache an Galbatorix nehmen und unser Volk wird untergehen. Deshalb werde ich an deiner Seite laufen. Ich bin der beste unserer Kämpfer. Ich habe zweiundvierzig Gehörnte im Kampf Mann gegen Mann besiegt.«
Eragon nickte, ganz zufrieden damit, wie sich die Dinge entwickelten. Von allen Urgals vertraute er Garzhvog am meisten. Er hatte den Geist des Kull vor der Schlacht auf den Brennenden Steppen erforscht und herausgefunden, dass Garzhvog, zumindest nach den Maßstäben seiner Spezies, ehrlich und zuverlässig war. Solange er nicht glaubt, dass seine Ehre es verlangt, mich zum Duell zu fordern, werden wir keinen Streit bekommen.
»Ausgezeichnet, Nar Garzhvog«, erwiderte der Drachenreiter und zog den Bauchriemen seines Rucksacks fester. »Dann lass uns zusammen laufen, du und ich, Kull und Drachenreiter, so wie es in der Geschichte Alagaësias noch nie geschehen ist.«
Ein dunkles Lachen rollte durch Garzhvogs Brust. »Lass uns laufen, Feuerschwert.«
Sie wandten sich nach Osten in Richtung Beor-Gebirge. Eragon lief leichtfüßig und schnell, brauchte aber für jeden Schritt des Kull, der die Erde zum Erbeben brachte, zwei.
Vor ihnen am Horizont sammelten sich dicke Gewitterwolken, die einen heftigen Wolkenbruch ankündeten; über ihnen stießen kreisende Falken auf ihrer Jagd nach Beute schrille Schreie aus.

 

 

Die Weisheit des Feuers
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